Kurzgeschichten
Unterschiedliche Impulse standen zur Verfügung. Die Schülerinnen und Schüler konnten eine eigene Idee verarbeiten, sich von einem Impuls inspirieren lassen oder einen vorhandenen Plot textlich umsetzen. Natürlich wurde dabei auch das Coronathema und die Situation im Homeschooling verarbeitet. Anschließend wurden die so entstandenen Kurzgeschichten anonym innerhalb der Klasse verschickt, so dass jede Schülerin und jeder Schüler einen Text einer Klassenkollegin bzw. eines Klassenkollegen zugesendet bekam, ohne zu wissen, von wem genau. Dann mussten die Autorinnen und Autoren in die Rolle der Kritiker schlüpfen und die anonymen Texte korrigieren und im Sinne eines Feedbacks bewerten. Ein spannender Prozess, bei dem am Ende jeder Text zwei unabhängige Bewertungen durch eine Mitschülerin oder einen Mitschüler und durch die Lehrperson erhielt.
Eine kleine Auswahl dürfen wir hier präsentieren (mehr folgt in Kürze):
„Karin, nimm deine Katze vom Tisch weg!“, meinte der Lehrer während der Videokonferenz zu einer Schülerin. Lena empfand in den letzten Wochen die in das Bild laufenden Haustiere der Klassenkameraden als erfrischende Abwechslung in der Abfolge von eintönigen Videokonferenzen. Die Katze von Karin verschwand aus dem Bild. Lena klappte am Ende der Videoeinheit ihren Laptop zu. Nach monatelangem Lernen von zu Hause aus gab es kaum mehr etwas, worauf sie sich freute. Kein Lachen in der Pause, kein Dramatisieren von kleinsten Begebenheiten untereinander, kein Tanzkurs- nichts. Die Treppe hinunter in das Wohnzimmer war ihr eine willkommene Bewegungsmöglichkeit. Sie schritt zwei Stufen voran und hüpfte eine wieder zurück. So ging es bis zum Ende der Treppe. Im Wohnzimmer traf sie ihre Eltern an. Der Sonnenschein fiel auf die Zeitung des Vaters, der ihre Art die Treppe zu überwinden mit Stirnrunzeln wahrnahm.
Lena sah den Moment gekommen, ihren seit vielen Jahren bestehenden Wunsch nach einer eigenen Katze den Eltern nun mit deutlichem Nachdruck mitzuteilen. „Ihr wisst, dass ich seit Wochen jeden Tag alleine zu Hause sitze. Ich brauche ein lebendiges Wesen. Seit Jahren lehnt ihr meinen innigsten Wunsch ab, aber jetzt ist eine so außergewöhnliche Zeit gekommen!“, sagte Lena bestimmt. Die Mutter blickte mitleidvoll und wollte gerade zu sprechen beginnen, da fiel ihr der Vater in das Wort. „Du kennst unsere Argumente. Dieses Thema ist seit langer Zeit abgeschlossen“, erwiderte er mit gequälter Stimme. Die Tränen stiegen Lena in die Augen, rannen über ihre Wangen und tropften auf ihre Bluse. Bevor ihre Mutter eine Bewegung auf sie zumachen konnte, drehte sie sich um und lief die endlos erscheinende Treppe nach oben. Lena schloss die Kinderzimmertür hinter sich zu. Von unten drangen Laute einer langen und heftigen Diskussion ihrer Eltern nach oben.
Am nächsten Tag empfand sie das Verhalten ihrer Eltern ihr gegenüber als auffallend zuvorkommend und freundlich. Sie hörte ihre Mutter mit jemanden telefonieren und schnappte Gesprächsteile auf, wie „kommt morgen zu uns nach Hause“, „sie braucht unbedingt jemanden“, „alles wird sich verändern für uns“. Lena musste sofort an die Katze denken. „Nun haben meine Eltern ein Einsehen mit mir“, dachte sie erleichtert. Eine wärmende Freude stieg in ihr auf. Als der Vater von der Arbeit nach Hause kam, trug er einen breiten Korb in der Hand und einen großen Sack mit Dosen, den er in den Keller stellte. Sie schaute ihn fragend an, aber er meinte nur: „Das wirst du schon noch sehen.“ Die Eltern gaben sich an diesem Tag ihr gegenüber wortkarg, besprachen vieles untereinander und brachen laufende Gespräche abrupt ab, sobald Lena erschien. Dies waren untrügliche Zeichen für Lena, dass ihre Eltern die Ankunft ihrer Katze vorbereiteten. Lena suchte in ihrem Kleiderkasten nach einer passenden Decke für den Katzenkorb. Eine weiche lila Baumwolldecke mit gelben Streifen wählte sie aus. In ihrer WhatsApp Gruppe berichtete Lena zerspringend vor Freude von der baldigen Ankunft ihrer kleinen Katze.
Am nächsten Tag fuhren ihre Eltern gemeinsam mit dem Auto weg. Dies war ungewöhnlich. Lena erledigte einstweilen die Mathematikhausaufgabe. In Gedanken ging sie mögliche Namen für ihre Katze durch. „Schnurri, Maxi oder sollte ich doch einen ungewöhnlichen Namen nehmen, Penelope zum Beispiel“ überlegte Lena an ihrem Stift kauend. Da bemerkte sie die Rückkehr ihrer Eltern. „Vorsichtig! Nicht so schnell“ hörte sie ihren Vater zur Mutter sagen. Er rief seine Tochter nach unten. Lena sah bereits in Gedanken die Katze durch das Wohnzimmer springen und tänzelte die Stiege erwartungsvoll und aufgeregt nach unten. Vater zeigte zum Tisch. Da saß eine alte, blasse Frau. „Lena, das ist Großtante Maria. Sie wird während der Corona Zeit bei uns leben, denn sie ist einsam und kann sich nicht mehr selber versorgen. Deshalb haben wir alles in den letzten beiden Tagen vorbereitet. Wir heißen sie herzlich willkommen bei uns.“ Lena verspürte einen kalten Schauer über ihren Körper laufen, enttäuscht senkte sie die Augen und stieg mit schweren Schritten wortlos die Treppe nach oben.
Es war Winter als zwei Schwerkranke im gleichen Zimmer eines Krankenhauses lagen. Das Zimmer war nicht besonders groß. Einer der beiden lag in einem Bett neben der Türe, der andere lag in einem Bett neben dem Fenster. Nur durch das Fenster konnte man etwas sehen. Es war die einzige Chance den quälenden Gedanken im Krankenhaus zu entkommen. Weil der eine, der neben der Türe lag, nicht aus dem Fenster schauen konnte, war es ein größter Wunsch mit seinem Zimmerkollegen Betten zu tauschen, um auch einmal hinausschauen zu können. Der am Fenster Liegende, litt sehr darunter, den anderen so traurig zu sehen. Er hatte fast ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Um den andern zu entschädigen und ihm etwas Gutes zu tun, erzählter er ihm jeden Tag stundenlang, was durch das Fenster zu sehen war, was draußen passierte und wie das Wetter war. Eines Abends passierte etwas Schreckliches. Der Mann am Fenster bekam plötzlich einen Erstickungsanfall. Der andere hätte sogar noch rechtzeitig einen Arzt oder eine Ärztin rufen können, unterließ das jedoch aus einem fraglichen Grund. Weil er also keine Hilfe gerufen und auch selbst nicht geholfen hatte, fand man den armen Mann am nächsten Tag tot in seinem Bett auf. Er war erstickt. Sein Fensterbett wurde geräumt und der eine, der bisher an der Türe gelegen hatte, erhielt es. Sein Wunsch war in Erfüllung gegangen. Er hatte sein geliebtes Fensterbett bekommen. Erwartungsvoll und fast schon ein bisschen gierig wendet er sein Gesicht zum Fenster. Doch…Nichts…Nur eine leere Mauer.
Matt schien das trübe Sonnenlicht durch die verdunkelten Vorhänge. Er hasste das Sonnenlicht, doch ihm fehlte die Kraft die Vorhänge ganz zuzuziehen. Müde starrte er an die Decke, wie spät es wohl war. Er wusste es nicht. Er wusste auch nicht, was für ein Tag, nicht einmal genau welcher Monat es gerade war. Er wusste nur, dass es wohl Herbst sein musste, denn durch den kleinen Schlitz zwischen den Vorhängen sah er die Äste des kahlen Baums, von dem in letzter Zeit immer wieder orange und braune Blätter gefallen waren. Eigentlich war es ihm auch egal welcher Tag, welches Monat oder Jahr es war, eigentlich war ihm alles egal. Alles schien ein trüber Nebel zu sein, ohne einen Anfang und ohne ein Ende. Ihm erschien alles so sinnlos, wozu gegen den Nebel ankämpfen, wozu das Bett verlassen, am liebsten wollte er nur schlafen. Schlafen, ohne zu denken, ohne die elende Leere in seinem Körper zu spüren. Die Leere, die ihn immer und immer wieder zum Fall in ein tiefes Loch brachte. Aber was sollte er tun, er hatte keine Kraft diese schreckliche unendliche Leere zu füllen, er versuchte es auch nicht.
Manchmal schaffte er es sich aufzuraffen, ein kleinwenig zu essen. Doch das war nur sehr selten. An jenem Tag lag er lieber im Bett, beobachtet die dürren Äste des Baums und fragte sich, wie es wohl wäre als Baum. Es gäbe keine Probleme, keine dunkle Hülle, die einen umgab. Keine grauenvollen Gedanken oder Stimmen im Kopf, die dir sagten, wie sinnlos das Leben doch ist. Deshalb ruhte sein Blick noch weiter auf dem knochigen Holz, solange bis es zu dunkel wurde, um noch etwas zu erkennen. Er wandte den Blick ab und richtete ihn in die trostlose Dunkelheit um ihn herum.
Beende es, wisperten die Stimmen in seinem Kopf, es ist doch so einfach! Sie haben recht, dachte er, sie haben ja so recht! Er griff zu der kleinen Dose auf seinem Nachttisch und leert den gesamten Inhalt auf seine Hand. Dann schloss er die Augen und führte zittrig die Pillen zu seinem Mund.
Nicht! Unterbrach ihn die helle Stimme. Die Stimme, die den Nebel für kurze Zeit zu lichten schien, die Stimme, die ihn schon so viele Male vor dem Schlucken bewahrt hatte. Sie war das einzige Licht, das seinen Tag zu erhellen vermochten. Bitte tu es nicht, sagte sie ganz leise. Und er spürte ihre Tränen, die sie still weinte. Sie weinte oft, wenn sie dieses Zimmer betrat. Sie nahm die Tabletten und die Dose aus seinen mageren Händen und verließ das Zimmer ohne ein einziges Wort.